ESRF – Gigant unter Europas Synchrotrons
Mehr als vierzig Experimentierstationen bietet sie und rund neuntausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen dort pro Jahr: Die European Synchrotron Radiation Facility ist das High-End-Instrument unter den europäischen Synchrotrons. Sie stellt den Forschenden die energiereichste Röntgenstrahlung an einem Synchrotron zur Verfügung und damit ist noch lange nicht Schluss: Nun wurde sie auf die neueste Generation modernisiert und bietet noch brillantere und fokussiertere Strahlung.
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Ort:
Grenoble (Frankreich) -
Baukosten:
327 Millionen Euro (Erneuerung) -
Anzahl Forschende:
700 Angestellte; 9000 Messgäste pro Jahr -
Beteiligte Länder:
Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Indien, Israel, Italien, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Russland, Schweden, Schweiz, Slowakei, Spanien, Südafrika, Tschechien, Ungarn, Vereinigtes Königreich -
Ziel:
Zusammensetzung und Eigenschaften von Materie erforschen -
Anwendungsbeispiel:
Materialien für Energiespeicher erforschen -
Gerätetyp:
Synchrotron (Röntgenstrahlungsquelle) -
Messmethode:
Diverse, z.B. Spektroskopie mit Röntgenstrahlung, Röntgenmikroskopie und Röntgentomographie -
Untersuchungsobjekt:
Materie (z.B. neue Werkstoffe und Materialien, Biologische Strukturen) -
Bauphase:
1988 bis 1994 (erste Bauphase),
2009 bis 2021 (Erneuerung) -
Rechtsform & beteiligte Institutionen:
ESRF, Société civile nach französischem Recht -
Größe:
844 Meter Umfang -
Experimentdetails:
Wellenlänge der Strahlung:
0,005 (Röntgenstrahlung) bis 4 Nanometer (UV-Strahlung)
Horizontale Emittanz: 120 pm⋅rad
Welche Erkenntnisse die ESRF liefert
Die European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) betreibt in Grenoble die derzeit weltbeste Röntgenlichtquelle. Gemeinsam mit dem European Molecular Biology Laboratory und der Forschungsneutronenquelle HFR ist sie auf dem Forschungsgelände des European Photon and Neutron Campus angesiedelt. Die enge Zusammenarbeit mit diesen Einrichtungen sorgt immer wieder für bahnbrechende Erfolge, vor allem im Bereich der Lebenswissenschaften.
An den Experimentierplätzen lässt sich Synchrotronstrahlung für verschiedene Untersuchungstechniken erzeugen. Die Forschenden analysieren damit die Eigenschaften der vielfältigsten Arten von Materie, zum Beispiel ihre Struktur, Dynamik und Zusammensetzung.
Die erzeugte sogenannte harte Röntgenstrahlung kann besonders tief in die Materie eindringen. Sie eignet sich gut, um Materialien zu untersuchen, die mit einem anderen Material bedeckt, sozusagen zugeschüttet, sind. In der Werkstofftechnik ist das hochinteressant, denn dort kommen häufig beschichtete Materialien zum Einsatz. Auch die Archäologie, Paläontologie und Materialprüfung bedienen sich der Methoden an der ESRF. Forschende dieser Disziplinen analysieren die Struktur und Zusammensetzung im Inneren eines Stoffes, beispielsweise hochmoderne Quantenmaterialien, oder erkennen Materialermüdung in Bauteilen.
Auch Forschende aus den Lebenswissenschaften setzen auf die harte Röntgenstrahlung. Sie wollen die Bestandteile von Viren, beispielsweise Proteine und Ribonukleinsäuren (RNA), verstehen. Dazu schießen sie mehrere Millionen ultrakurze Röntgenstrahlpulse pro Sekunde auf die Moleküle und beobachten die Reaktionen, an denen sie beteiligt sind. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lernen so zu verstehen, wie Enzyme oder Viren funktionieren. Anschließend können sie die Ergebnisse nutzen, um neue, verbesserte Medikamente zu entwickeln.
Auch weit darüber hinaus verwenden zahlreiche Forscherinnen und Forscher die harte Röntgenstrahlung zur physikalischen und chemischen Grundlagenforschung und zur anwendungsnahen Forschung. Sie analysieren und verändern atomare und molekulare Eigenschaften. Die Erkenntnisse aus dieser Forschung leisten einen wesentlichen Beitrag für Anwendungen in der Nanotechnologie sowie den Umwelt- und Informationswissenschaften: Mit der Erforschung zukünftiger Datenspeicher und Solarzellen erschließen die Forscherinnen und Forscher an Europas Top-Synchrotron die Basis für die Welt von morgen.
Wie die ESRF funktioniert
Die ESRF liefert Röntgenstrahlung, die hundert Milliarden Mal stärker ist als solche, die Radiologinnen und Radiologen in Krankenhäusern verwenden. Um dies zu erreichen, bedienen sich die Physikerinnen und Physiker Elektronen, die beinahe mit Lichtgeschwindigkeit auf einer fast einen Kilometer langen Ringbahn kreisen. Dabei produzieren sie die extrem intensive und brillante Röntgenstrahlung für die Experimente. Doch vorher durchlaufen die Elektronen im Wesentlichen drei Schritte: Zunächst fungiert ein Linearbeschleuniger als Elektronenkanone und generiert Elektronenpakete. Er beschleunigt sie auf eine Energie von zweihundert Megaelektronenvolt. Diese gelangen im Anschluss in einen Ringbeschleuniger mit einem Umfang von dreihundert Metern. Sie gewinnen weiter an Fahrt, bis sie mit sechs Gigaelektronenvolt die insgesamt dreißigfache Energie erreichen.
Anschließend fliegen die Elektronen in den sogenannten Speicherring von 844 Metern Umfang, das Herzstück der ESRF, und drehen stundenlang mehrere Milliarden Runden. An bestimmten Stellen sind am Speicherring spezielle Magnete angeordnet – man spricht von Undulatoren. Sie lenken die Elektronen auf kurzen Strecken auf wellenförmigen Bahnen. Das bringt die Elektronen dazu, Röntgenstrahlung auszusenden. Diese Synchrotronstrahlung hat über tausendmal mehr Energie als das sichtbare Licht und Wellenlängen zwischen 4 und 0,005 Nanometer: Sie ist extrem intensiv und zugleich eng gebündelt – die Forschenden sprechen von sehr brillantem Licht. An über dreißig Strahlrohren gelangt das Licht schließlich vom Speicherring zu den Experimentierplätzen.
Dort nutzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, zum Beispiel die Röntgenbeugung und Röntgenmikroskopie, um die Struktur eines Materials bis ins Detail zu entschlüsseln. Auch die Zusammensetzung können sie ermitteln. Dazu bedienen sie sich der sogenannten Spektroskopie, mit der sie ortsgenau bestimmen, welche chemischen Elemente zu welchen Anteilen in der untersuchten Probe vorkommen. Dazu messen die Forschenden Spektren, die entstehen, wenn das Röntgenlicht auf die Probe trifft.
Bei der sogenannten Röntgenfluoreszenz sendet das Material selbst Licht aus, nachdem es mit der Röntgenstrahlung angeregt wurde. Das liefert den Forscherinnen und Forschern wertvolle Informationen über seine Eigenschaften. Mit rasch aufeinanderfolgenden, kurzen Röntgenpulsen machen sie Aufnahmen in ultrakurzen Abständen. Auch schnell ablaufende Prozesse in Materie lassen sich so beobachten.
Wer an der ESRF beteiligt ist
Die ESRF wird als Société civile nach französischem Recht betrieben. Mit einem Anteil von 24 Prozent ist auch Deutschland Mitglied. Zudem sind zwölf weitere Länder als Mitglieder sowie acht als wissenschaftliche Partner beteiligt. Die ESRF gehört zu den weltweit führenden Einrichtungen in der Forschung mit Synchrotronstrahlung und ist mit über 2000 Veröffentlichungen pro Jahr die wissenschaftlich produktivste Synchrotronstrahlungsquelle der Welt. Die Einrichtung bietet eine einzigartige Forschungsinfrastruktur mit sich ergänzenden Laboren und 41 hochspezialisierten Experimentierplätzen. Jedes Jahr führen hier rund siebentausend Gastforscherinnen und -forscher aus mehr als vierzig – vorwiegend europäischen – Ländern Experimente durch.
Rund viertausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verwenden in Deutschland regelmäßig Synchrotronstrahlung für ihre Forschung. Die finanzielle Beteiligung des Bundesforschungsministeriums (BMBF) an der ESRF ergänzt für die deutsche Wissenschaftsgemeinde die nationalen Synchrotronstrahlungsquellen wie PETRA III, FLASH oder BESSY II. Aufgrund dieser Beteiligung erhalten auch deutsche Forschergruppen einen kostenlosen Zugang. In der Funktion als Gesellschafter vertritt das Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY die Interessen Deutschlands. Zudem fördert das BMBF im Rahmen der ErUM-Projektförderung zur Vernetzung von Hochschulen, Forschungsinfrastrukturen und Gesellschaft regelmäßig Projekte deutscher Universitätsgruppen an der ESRF.
Was gerade an der ESRF passiert
Mit Hochdruck arbeiten die Forschenden in Grenoble daran, die Vorreiterrolle der ESRF in der europäischen Synchrotronlandschaft langfristig sicherzustellen. In der Ausbauphase von 2015 bis 2022 wurde der Speicherring komplett erneuert und die Strahleigenschaften verbessert. Zudem wurden vier neue Messplätze errichtet. Der Strahl ist seit 2020 über 25 Mal besser gebündelt und hundertfach brillanter. Die Ausbauphase, die im Kosten- und Zeitplan abgeschlossen wurde, benötigte 150 Millionen Euro.
zuletzt aktualisiert: Mai 2023