ESS – Eine neue Ära für die Neutronenforschung
Mit der Europäischen Spallationsquelle ESS in Lund beginnt eine neue Ära für die Neutronenforschung. Sie wird mit dem leistungsstärksten jemals gebauten Linearbeschleuniger für Protonen den weltweit intensivsten gepulsten Neutronenstrahl liefern. Damit eröffnet sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine breite Palette an neuen Möglichkeiten, um zur Lösung der großen Herausforderungen in Bereichen wie Klimawandel, Energieversorgung, Medizin und Quantencomputing beizutragen.
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Ort:
Lund (Schweden) -
Baukosten:
1,843 Milliarden Euro -
Anzahl Forschende:
Voraussichtlich 2000 bis 5000 Nutzerinnen und Nutzer pro Jahr -
Beteiligte Länder:
Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Italien, Norwegen, Polen, Schweden, Schweiz, Spanien, Tschechien, Ungarn, Vereinigtes Königreich -
Ziel:
Materie und Materialien erforschen -
Anwendungsbeispiel:
Entwicklung neuer magnetischer Speichermaterialien -
Gerätetyp:
Neutronenquelle (Spallationsquelle) -
Messmethode:
Neutronenstreuung -
Untersuchungsobjekt:
Materie – von Proteinen über Werkstoffe bis zu ganzen Bauteilen -
Bauphase:
2014 - 2027 -
Rechtsform & beteiligte Institutionen:
European Research Infrastructure Consortium (ERIC) -
Größe:
650 Meter Länge -
Experimentdetails:
Energie Protonenbeschleuniger: 2 Megawatt, Ausbau auf 5 Megawatt möglich
Instrumente: vorerst 15
Welche Erkenntnisse die ESS liefert
Neutronen: unscheinbare Bestandteile von Atomkernen und doch wahre Multitalente – aus dem Innersten der Materie holen sie verschiedenste Informationen heraus. Die Europäische Spallationsquelle ESS nutzt solche Teilchen für die Forschung in verschiedensten Feldern: in der Medizin, Umwelt, Energieversorgung oder Werkstoffprüfung. Damit wird sie wichtige Fragen für unsere Wirtschaft und Gesellschaft beantworten.
Die Neutronen, die sich die Forschenden zunutze machen, sind nicht im Atomkern gebunden. Sie sind frei und erlauben tiefe Einblicke in die innere Struktur und Dynamik von Materie, ohne die Untersuchungsobjekte zu zerstören. Dabei können die ungeladenen Kernteilchen – je nach Messinstrument und abbildendem Verfahren – erstaunlich tief blicken und ultraschnelle Vorgänge beobachten. Bis zu Billiardstel Metern kleine Strukturen und Billiardstel Sekunden kurze Bewegungen lassen sich feststellen – Größenordnungen, in denen sich einzelne Atomkerne bewegen.
Deutlich tiefer als Ionen, Elektronen oder Röntgenstrahlung dringen die elektrisch ungeladenen Neutronen in die Materie ein. Sie machen Kristallgitter und magnetische Strukturen, aber auch Bewegungen von Teilchen sichtbar. Sie identifizieren verschiedene Isotope eines Elements, die bis auf die Anzahl der Neutronen im Atomkern identisch sind. Und sie können die verwandten Atome leichter Elemente wie die verschiedenen Isotope von Wasserstoff besonders gut voneinander unterscheiden. Mit diesem breiten Portfolio bietet sich die Spallationsquelle für zahlreiche Experimente an. Deshalb warten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Physik, Chemie, Biologie, Kristallografie, der Material- und Energieforschung und sogar der Medizin, Archäologie und Kunstgeschichte mit Spannung darauf, die höchst intensiven Neutronenstrahlen dieser Anlage zu nutzen.
Wie die ESS funktioniert
An der ESS werden freie Neutronen durch sogenannte Spallation (englisch für „Absplitterung“) erzeugt. Neutronen sind üblicherweise im Atomkern festgehalten –um für Experimente zur verfügbar zu sein, müssen sie zunächst „befreit“ werden. Dazu heizen Forschende mit rasch wechselnden elektromagnetischen Feldern eine Ionenquelle voller Wasserstoffgas so stark auf, dass sich die Elektronen aus den Gasmolekülen lösen. Zurück bleiben „nackte“ Wasserstoffkerne – die Protonen. In einem über 500 Meter langen, unterirdischen Linearbeschleuniger werden diese Protonen mithilfe von weiteren elektromagnetischen Feldern immer schneller – bis sie mit einer Energie von rund zwei Gigaelektronenvolt nahezu mit Lichtgeschwindigkeit durch den Beschleuniger rasen.
Am Ende des Tunnels treffen sie auf ein drehbares Ziel, das aus dem Schwermetall Wolfram besteht. Dieses sogenannte Target ist gewissermaßen der Dreh- und Angelpunkt der Anlage: Hier schlagen die Protonen aus den Kernen der Wolframatome Neutronen heraus. Das gelingt, indem sie gewaltige Mengen an Energie auf die Atomkerne übertragen. Die Folge: Die Kerne werden immer heißer, bis sie etwa zwanzig bis dreißig Neutronen auf einmal „abdampfen“. Denn nur so werden sie die überschüssige Energie wieder los. Damit ist die Spallation viel effizienter als die Kernspaltung – und kommt ohne radioaktiven Zerfall aus.
Die Neutronen, die aus dem Wolframtarget abdampfen, sind zu diesem Zeitpunkt allerdings noch zu schnell und energiereich für wissenschaftliche Experimente. Sie würden einfach durch eine Materialprobe hindurchsausen. Damit das nicht geschieht, müssen die rund 70 Millionen Kilometer pro Stunde schnellen Neutronen auf etwa 12 000 Kilometer pro Stunde abbremsen. Das geschieht, indem sie durch mit Wasser oder flüssigem Wasserstoff gefüllte Tanks, sogenannte Moderatoren, fliegen.
Über Strahlführungen – die Beamlines – gelangen die freien Neutronen anschließend zu den Experimentierstationen. Dort dienen sie als Sonden für verschiedene Materialproben. Detektoren registrieren, wie sich die Bewegung der Neutronen verändert, wenn jene mit der Probe wechselwirken. Daraus berechnen die Forschenden, wie die Atome in der Probe angeordnet sind und wie sie sich bewegen. Sie bedienen sich dazu der Flugzeit der Neutronen, ihrer zurückgelegten Strecke oder dem Winkel, um den sie ihre Bewegungsrichtung ändern. Diese Analyse führen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mithilfe des Daten- und Softwarezentrums in Kopenhagen durch.
Wer an der ESS beteiligt ist
Die ESS ist eines der größten europäischen Großgeräte der Grundlagenforschung, die derzeit errichtet werden. Insgesamt beteiligen sich 13 europäische Länder an dem Gemeinschaftsprojekt, das neue Standards in der Forschung mit Neutronen setzen soll. Die beiden Sitzländer Schweden und Dänemark tragen fast die Hälfte der Baukosten; Deutschland ist der drittgrößte Geldgeber für das Bauprojekt und wird sich wesentlich am Betrieb beteiligen. Auch in der Planungsphase war Deutschland maßgeblich beteiligt: Im Rahmen der Projektförderung ErUM-Pro leisteten sieben deutsche Forschungseinrichtungen wesentliche Entwicklungsarbeiten für die Neutronenquelle. Rund 15 Millionen Euro erhielten sie hierfür vom Bundesforschungsministerium.
Aus gutem Grund: Innerhalb Europas stellt Deutschland die größte Gruppe von etwa 1500 Forscherinnen und Forschern aus Wissenschaft und Industrie, die Neutronen nutzen. Insgesamt ist pro Jahr mit zwei- bis fünftausend Forschenden zu rechnen, die mit den ESS-Neutronen Materialeigenschaften erforschen werden, die mit anderen Methoden nicht zugänglich sind. Daher hat die künftige Hochleistungs-Spallationsquelle Europas enorme Bedeutung für die Forschung in Deutschland und Europa. Sie steht an prominenter Stelle der Roadmap des BMBF und des Europäischen Strategieforums für Forschungsinfrastrukturen ESFRI.
Bei der Auswahl der Instrumente berücksichtigen die Verantwortlichen der Anlage ein möglichst breites Spektrum an Nutzerbedürfnissen. Auch aufstrebende Fachgebiete wie die Strukturbiologie und Wasserstofftechnologie oder industrielle Anwendungen wie die Werkstoffprüfung und -entwicklung spielen eine große Rolle. In Deutschland sind derzeit vor allem das Forschungszentrum Jülich, das Helmholtz-Zentrum Hereon sowie die Technische Universität München daran beteiligt, neue Messinstrumente für die Neutronenforschung der Spitzenklasse zu entwickeln.
Was gerade an der ESS passiert
Die Spallationsquelle befindet sich in in den letzten Jahren der Fertigstellung und wird ab 2027 zur leistungsfähigsten Neutronenquelle der Welt: dreißigmal intensiver als der Hochflussreaktor am Institut Laue-Langevin in Grenoble und fünfmal so leistungsstark wie die Spallation Neutron Source des Oak Ridge National Laboratory in den USA.
Die Planungen für dieses Großforschungszentrum begannen bereits vor über einem Jahrzehnt. Nach der Bauentscheidung im Jahr 2009 entwickelte das Planungsteam von 2010 bis 2014 das technische Design der ESS-Anlage weiter. Schließlich begann im Sommer 2014 der Bau. In der Bauphase bringen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus deutschen Neutronenforschungszentren und Universitäten ihre Expertise ein. In den sogenannten In-Kind-Beiträgen tragen sie technische Ausrüstung bei, stellen Personal und entwickeln Soft- und Hardware. Mit finanzieller Unterstützung des Bundesforschungsministeriums entwickeln und bauen sie innovative Instrumente für die Anlage. Ab Ende 2027 soll der Nutzerbetrieb mit vorerst acht Instrumenten beginnen. Die ESS wird dann tausende Top-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler aus der ganzen Welt anziehen.
zuletzt aktualisiert: April 2023