KATRIN – Die Neutrinowaage
Sie werden als Geisterteilchen des Universums bezeichnet: die sogenannten Neutrinos. Sie durchdringen jegliche Materie – jede Sekunde auch etwa siebzig Milliarden von ihnen den menschlichen Körper – ohne Spuren zu hinterlassen. Wie lassen sich diese flüchtigen Elementarteilchen erforschen? Oder gar wiegen? Ein internationales Wissenschaftsexperiment betreibt gewaltigen technischen Aufwand, um die mysteriösen Partikel auf die Waage zu bringen.
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Ort:
Karlsruhe -
Baukosten:
60 Millionen Euro -
Anzahl Forschende:
200 -
Beteiligte Länder:
Brasilien, Dänemark, Deutschland, Spanien, Tschechien, USA, Vereinigtes Königreich -
Ziel:
Masse des Elektron-Antineutrinos bestimmen -
Anwendungsbeispiel:
Verbesserung von Wasserstofftankstellen für Brennstoffzellenfahrzeuge -
Gerätetyp:
Neutrinowaage -
Messmethode:
Elektronenspektrometrie -
Untersuchungsobjekt:
Elektron-Antineutrinos -
Bauphase:
2015 bis 2018 -
Rechtsform & beteiligte Institutionen:
Karlsruher Institut für Technologie -
Größe:
70 Meter Länge -
Experimentdetails:
Spektrale Auflösung: 0,93 Elektronvolt
Welche Erkenntnisse KATRIN liefert
Auf dem Gelände des Forschungscampus Nord des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) steht ein riesiger Vakuumtank. Eine glänzende, dicke Edelstahl-Zigarre, so lässt sich der optisch auffälligste Teil des Experiments beschreiben. Zentrale Komponenten im Inneren des Tanks sind ein Hochleistungsspektrometer und ein Detektor. Zusammen mit einer Tritiumquelle bilden sie, vereinfacht dargestellt, die Zutaten für die genaueste Neutrinowaage der Welt. Sie heißt KATRIN, was für Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment steht. Knapp zweihundert Mitglieder aus sieben verschiedenen Ländern beteiligen sich an dem einzigartigen Experiment.
Warum interessieren sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überhaupt für die genaue Masse dieser unscheinbaren Elementarteilchen? An der Masse der Neutrinos entscheiden sich eine Reihe von physikalischen Grundsatzfragen im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik. Es fasst die wesentlichen Erkenntnisse der Teilchenphysik nach heutigem Stand zusammen. Dabei beschreibt es alle bekannten Elementarteilchen, aus denen unsere Welt besteht und Wechselwirkungen zwischen ihnen.
Das Forschungsinteresse ergibt sich auch aus der Anzahl der Neutrinos. Zwar hinterlassen sie fast keine Spuren, dennoch sind sie die zweithäufigsten Teilchen im Universum. Milliarden von ihnen durchdringen, von der Sonne kommend, im Sekundentakt den Körper des Menschen. Zusätzliche Neutrinos, die rund 13,8 Milliarden Jahre alt sind und während des Urknalls entstanden sind, könnten allein wegen ihrer Dominanz die Entwicklung des Universums beeinflusst haben.
Dass Neutrinos eine Masse besitzen müssen, dafür gab es schon seit langem Hinweise aus der Astrophysik. Für den konkreten Nachweis erhielten 2015 die Teilchenphysiker Takaaki Kajita und Arthur McDonald den Nobelpreis für Physik. Insgesamt unterscheidet die Wissenschaft drei Neutrino-Generationen. Die prämierten Forscher konnten zeigen, dass die vermeintlichen Geisterteilchen selbstständig von einer in die andere Form wechseln können. Diese sogenannte Neutrinooszillation ist nur möglich, wenn die Neutrinos unterschiedlicher Generationen eine Masse besitzen. Wie groß diese ist, will nun das internationale Experiment KATRIN herausfinden.
Wie KATRIN funktioniert
Die Neutrinowaage KATRIN nutzt eine indirekte Messmethode, die Vorgängerexperimente in Mainz und Troizk entwickelt haben. Im Vergleich waren die Apparaturen allerdings deutlich kleiner und weniger leistungsfähig. Gegenüber früheren Neutrino-Experimenten verfügt KATRIN über eine um den Faktor hundert intensivere Quelle und stark verbesserte spektroskopische Eigenschaften. Neutrinos sind zu flüchtig, um sie auf direktem Wege zu messen. Daher legen die Forschenden ihren Fokus auf die Begleiter der Neutrinos – die Elektronen –, um mit ihrer Hilfe das gesuchte Gewicht der Geisterteilchen zu ermitteln. Die Herangehensweise beruht auf dem Wissen, dass Neutrinos in Kernreaktionen immer gemeinsam mit Elektronen entstehen. Im Gegensatz zu den schwer greifbaren Neutrinos sind die Eigenschaften von Elektronen gut erforscht. Sie sind elektrisch geladen, ändern ihre Richtung, wenn sie durch magnetische und elektrische Felder fliegen, lassen sich beschleunigen, abbremsen und sogar nach ihrer Geschwindigkeit sortieren.
Am Anfang des indirekten Neutrino-Nachweises steht eine Tritiumquelle, die in den Vakuumtank strömt. Das radioaktive Wasserstoff-Isotop ist instabil und zerfällt schnell. Als Zerfallsprodukte entstehen Helium, ein Elektron und ein Neutrino. Außerdem wird Energie frei. Nach Einstein ist Energie mit Masse gleichzusetzen (E=mc2). Wie sich diese auf das Elektron und das Neutrino verteilen, hängt von Fall zu Fall ab. KATRIN erlaubt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Energieverteilung für das Elektron zu ermitteln. Theoretisch kann diese maximal 18,6 Kiloelektronenvolt betragen, vorausgesetzt Neutrinos wären masselos. Dies ist nicht der Fall. Daher wollen die Forschenden Elektronen mit nahezu maximaler Geschwindigkeit erfassen und so auf die Ruhemasse des Neutrinos schließen. Sie entspricht dem gesuchten Gewicht.
Von den Elektronen, die beim Tritiumzerfall entstehen, werden in Vorfiltern zuvor nur diejenigen durchgelassen, die beinahe die maximale Energie besitzen. Dann wird für einige Minuten das Hauptspektrometer so eingestellt, dass nur Elektronen mit einem ganz kleinen Energiebereich durchkommen. Danach wird dieser Energiebereich ein kleines Stück verschoben und wieder für einige Minuten gemessen. So entsteht nach und nach eine sehr genaue Zählung der Elektronen jeder Energiestufe kurz vor der Endenergie.
Um Elektronen von einer ganz bestimmten Energie zum Detektor am hinteren Ende der „Zigarre“ hindurchzulassen, zwingen elektrische und magnetische Felder im Spektrometer den Elektronen komplizierte Flugbahnen auf. Nur Elektronen, die exakt eine bestimmte, experimentell eingestellte Energie besitzen, erreichen den Detektor am Ende des Experiments.
Wer an KATRIN beteiligt ist
Insgesamt rund zweihundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ingenieurinnen und Ingenieure, Technikerinnen und Techniker sowie Studentinnen und Studenten beteiligen sich unter Federführung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Universität Münster an dem Neutrino-Großexperiment. Sie kommen aus zwanzig Institutionen aus sieben Ländern. KATRIN nutzt die Fachkompetenz der vorigen Experimente und baut diese weiter aus. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beteiligt sich entscheidend an der Finanzierung von KATRIN. So finanzierte das BMBF fünfzig der sechzig Millionen Euro Baukosten. Der deutsche Anteil liegt insgesamt bei 93 Prozent der Kosten. Hinzu kommen Projektmittel, die das BMBF zusätzlich bereitstellt - bisher insgesamt zehn Millionen Euro. Darüber finanziert es Beiträge deutscher Universitäten zum KATRIN-Experiment.
Was gerade an KATRIN passiert
Im Sommer 2018 hat die Neutrinowaage KATRIN ihren wissenschaftlichen Betrieb aufgenommen. Bis es konkrete Ergebnisse gibt, muss eine Weile gemessen werden. Nur alle rund tausend Sekunden wird ein Elektron aus dem zerfallenden Tritium die passende Energie besitzen und die siebzig Meter lange Messstrecke passieren – das ergibt knapp hundert Messwerte pro Tag. Um daraus eine Messkurve zu erhalten, in der die Neutrinomasse als Knick an ihrem Ende erscheint, wird KATRIN mindestens fünf Jahre lang messen. Bereits im Herbst 2019 präsentierte die Kollaboration die ersten spektakulären Ergebnisse: Eine erste Messreihe von wenigen Wochen ergab, dass Neutrinos eine Masse von weniger als 1,1 eV/c² besitzen, dieser Wert ist nur halb so groß wie der bis dato bekannte Maximalwert. Damit kann die Masse also deutlich genauer eingegrenzt werden: Umgerechnet sind Neutrinos leichter als 0,000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 002 Gramm – 500 000 mal leichter als Elektronen.
Am Ende der gesamtem Messzeit stehen zwei mögliche Antworten: Entweder die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kennen danach die Masse des Neutrinos oder die speziellen Elementarteilchen sind noch leichter als angenommen. Je mehr Ereignisse zur Verfügung stehen, desto präziser werden letztlich die Messungen sein.
Zusätzlich zur wissenschaftlichen Erkenntnis stärkt KATRIN den Technologietransfer. Beim Bau des einzigartigen Großgeräts betraten die Beteiligten in vielerlei Hinsicht Neuland. So etwa mit dem weltweit größten Ultrahochvakuumtank, der das Volumen des Vakuums im 27 Kilometer langen Ring des Large Hadron Collider (LHC) am CERN in Genf noch zehnfach übertrifft. Das neu erworbene Wissen dient als Grundlage, um große Vakuumtanks für Forschung und andere spezielle Anwendungen routinemäßig herzustellen. Auch ein präzises Durchflussmessgerät für kalte Gase, Messtechnik für Hochspannung und keramische Isolatoren wurden speziell für die Neutrinowaage entwickelt. Diese Technologien lassen sich künftig etwa für Anwendungen wie Wasserstofftankstellen oder Stromnetze einsetzen. So kommen die Bundesmittel dem Wissenschaftsstandort Deutschland und der Gesellschaft zu Gute. Immer wieder zeigt sich, dass Technologien an der Grenze des Machbaren Innovationen anstoßen und neue Produkte hervorbringen.
zuletzt aktualisiert: Mai 2023